Käffchen?

Es war ein sehr grauer Morgen im Herbst. Die Luft war nass und schwer. Ich hatte das Gefühl dass die Wolken in den Baumwipfeln hängen blieben, konnte es aber nicht sehen weil es um kurz vor halb acht noch dunkel war. Die Straßenlaternen vor dem Schulhof warfen einen sehr weichen Lichtkegel auf den Asphalt und man konnte die kleinen Wassertröpfchen in der Luft förmlich sehen. Solches Wetter mag ich sehr, aber heute wollte es mich nicht aufmuntern. Alles war klamm. Meine Jacke, meine Hose, meine Schultasche, mein Sportbeutel. Die Haare, für die ich mir im zarten Alter von 16 Jahren morgens noch ganz viel Mühe vor dem Spiegel gegeben hatte – ich wollte ja gut aussehen für meine lieben weiblichen Stufenkameradinnen – waren fast noch so gestylt wie beim Verlassen der Wohnung. Für dieses Wetter hatte ich mal wieder genau die richtige Menge Gel verwendet, damit nach dem halbstündigen Weg den Berg hinauf zur Schule nicht schon alles für die Katz war. So war ich halt, mit 16 Jahren.

Vor der Schule begegnete mir Martin. Martin war ab der Mittelstufe und bis zum Abitur mein bester Freund. Er war halber Engländer, was mir in manchen Situationen gut geholfen hat, vor allem in der Abiturprüfung in Englisch. Davon waren wir aber an diesem grauen Morgen noch weit entfernt, denn wir waren ja erst in Stufe 11 und hatten morgens in den ersten beiden Stunden Sportunterricht.
Wer denkt sich diesen Stundenplan aus? Computer waren noch nicht verbreitet, und die ersten waren ausschließlich im Informatik-Raum zu finden. Der Rest der Schule war, wie alles zu der Zeit, noch relativ computerlos. Also muss es ein Lehrer gewesen sein, der sich diesen Quatsch ausdachte. Sport, im kalten, ungemütlichen, triefnassen, nebligen Herbst, in den ersten beiden Stunden.
Ich erinnere mich, dass wir zwei mal wöchentlich Sportunterricht hatten. Ein Mal früh morgens, und ein Mal in den letzten beiden Schulstunden am Nachmittag. Jetzt, am frühen Morgen, hätten wir uns also in der stinkenden Sporthalle umziehen müssen, um dann vor acht Uhr Federbälle über das Netz zu katapultieren. Es wäre noch was anderes gewesen wenn wir an diesem Morgen ins Schwimmbad gesollt hätten. Denn Martin und ich waren die einzigen beiden Jungs in unserem Sportkurs. Zwei Jungs und knapp zwanzig Mädels. Da ist Schwimmen eine andere Hausnummer im Alter von 16 Jahren. Genau so wie Rhythmische Sportgymnastik eine andere Hausnummer ist, aber leider in der entgegengesetzten Richtung. Denn neben dem Schwimmen sei auch die Rhythmische Sportgymnastik für alle Pflicht, wurde uns gesagt, und müsse ein paar Mal im Jahr gemacht werden. Bei uns mit Bändern. Also quasi tanzen zu komischer Musik mit langen Bändern in der Hand. Ich möchte kein weiteres Wort darüber verlieren. Zwei Jungs in einer Mädchengruppe. Dankeschön.
Schwimmen war da schon anders, gerade in unserem Alter. Badeanzüge, Badehosen, Mädchen und so. Und wieder nur wir beiden Jungs in einem Haufen von knapp zwanzig Mädels. Das war in etwa der einzige Kurs, um den uns unser Freundeskreis beneidete. Aber nicht heute. Denn es war dunkel draußen, nass, und kalt. Martin und ich hatten relativ wenig Lust, und es stand Badminton auf dem Plan.

Schon als ich Martin aus großer Distanz aus dem grauen Nebel stapfen sah, konnte ich ihm die fehlende Motivation sehr deutlich ansehen. Er trug wie immer einen langen Mantel. Dieser Umstand ließ ihn in unserer Stufe wie einen Außenseiter wirken, was er aber nicht war. Er war ein lustiger Typ und guter Freund, der als Engländer nun mal gerne Mäntel trägt, wie er es immer zu sagen pflegte. Nur dass sein Mantel an diesem frühen Morgen, als er nass war, natürlich noch schwerer wurde als meine Jacke. Die Augen hatte er zusammengekniffen, im Gegensatz zu mir mochte er solches Wetter nicht. Kannte er aus England zur Genüge. Wir trafen uns zwischen zwei Laternen in einer dunklen Ecke und um uns herum war reges Treiben. Scharenweise Schülerinnen und Schüler strömten schweigend wie ein nicht enden wollender Strom an Zombies an uns vorbei in Richtung Schulgebäude. Wir schauten uns an und wussten, dass wir beide den Sportbeutel nur von zuhause mitgenommen hatten, damit unsere Mütter nicht skeptisch wurden. „Vergiss den Sportbeutel nicht, Du brauchst ihn heute.“ Ja doch, ich nehme ihn ja schon. Wie so viele andere verfluchte ich einmal mehr, dass der Stundenzettel am Kühlschrank hing.

Martin und ich schauten uns an und wir wussten sofort, dass die Horde Mädchen heute alleine Badminton spielen sollte. So war das erste Wort zur Begrüßung dann auch kurz: Käffchen? Ein Lächeln blitzte in Martins Augen, und in meinen auch. Klar, Käffchen! Was für eine Frage. Der Sportlehrer musste heute ohne uns mit den Mädels alleine fertig werden.
Wir drehten uns um und gingen entgegen des Zombiemarsches in Richtung Einkaufszentrum. Dort hatten zwar noch nicht viele Geschäfte geöffnet um halb acht, aber der Bäcker schon. Da gab’s guten heißen Kaffee, den wir beide gerade jetzt bei diesem Wetter wirklich dringend brauchten. Viel dringender als den Sportunterricht. Es muss zur damaligen Zeit schon recht merkwürdig ausgesehen haben, wenn zwei 16-jährige morgens um kurz vor acht beim Bäcker sitzen und gemütlich beim Käffchen plaudern. Das war uns aber egal, auch wenn wir ganz bestimmt der ein oder anderen Mutter von Stufenkameraden begegnet sind, die in der Kleinstadt schon früh auf den Beinen war während andere schon in der Schule saßen oder eben mürrisch durch die Sporthalle hetzten. Wir nicht. Zeit für Käffchen. Wir waren 16. Wir fühlten uns erwachsen. Noch einen Cappuccino für mich!

Die erste Unterrichtsstunde für uns war die dritte Stunde für die anderen. Die Mädels sahen aus als hätten sie gerade 90 Minuten lang Badminton gespielt. Leicht verschwitzt, ein bisschen kaputt, die Haare auf halb acht und die Laune nicht viel besser. Als sie uns sahen, waren die Kommentare wenig überraschend. So, mal wieder keine Lust gehabt, was? Zum Glück geschah das alles mit einem Augenzwinkern. Auch von Seiten unseres Sportlehrers, den wir am selben Tag zu späterer Stunde noch in einem anderen Fach haben sollten, und dem natürlich nicht entgangen war, dass sich die beiden Hähne im Korb am frühen Morgen nicht hatten blicken lassen. Martin und ich interpretierten sein Augenzwinkern so, dass er es bestimmt auch nicht sooo schlimm fand, alleine mit den Mädels gewesen zu sein. Er war nämlich gerne der Hahn im Korb und hatte immer Spaß daran, früh morgens meckernde Schülerinnen durch die Gegend zu scheuchen. „Ihr seht nicht so aus, als hättet ihr Euch heute schon großartig angestrengt“, sagte er zu uns. Wir schmunzelten. Und dann ergänzte er in Richtung der Mädels: „Ihr aber auch nicht!“

Es gibt wenig, an dass ich mich in meiner Schulzeit gerne zurückerinnere. Alleine für solche Momente wünsche ich mir aber, nochmal zur Schule gehen zu können. Das war schon was ganz besonderes und ich weiß nicht, ob es heutzutage in den Schulen noch genau so locker zugeht. Wir haben alle unser Abi geschafft, und aus allen ist auch was geworden. Die Art und Weise, wie wir in der Schule behandelt wurden und was wir lernten, kann also nicht so schlecht gewesen sein.
Bis heute hat sich in der Tat wenig verändert. Ich trinke immer noch gerne Cappuccino und gehe immer noch gerne den unangenehmen Dingen aus dem Weg, es sei denn dass mich eine Horde Frauen erwartet. Leider sind die Gelegenheiten sowohl für das eine als auch für das andere sehr rar geworden in meinem Alltag.