Freunde im Universum

Der Termin stand schon viele Monate im Kalender. Je näher der Tag rückte, desto nervöser wurde ich. Für die Aufgeregtheit hatte ich keine Erklärung, denn es handelte sich nur um das 20-jährige Jubiläum meines Abiturjahrgangs. Es war also nichts, worauf es ankam. Kein Vorstellungsgespräch, keine Prüfung, kein Kundentermin von dem viel abhängt. Nur ein gemütliches Beisammensein in meiner Heimatstadt.

Mit dem Ende meiner Schulzeit brachen fast alle Kontakte zu meinen Klassenkameraden ab. Enge Freundschaften lösten sich von heute auf morgen auf, und alle gingen ihrer Wege. Ob das üblich ist? Keine Ahnung, bei mir war es so. Bis auf zwei Menschen habe ich heute zu niemandem mehr Kontakt. Und mit diesen zwei Personen war ich während meiner Schulzeit noch nicht einmal befreundet. Der enge Kontakt entwickelte sich erst in den letzen Jahren, weil wir uns über Facebook wiedergefunden hatten.

Was ist also schon dran an einem Abitur-Nachtreffen? Warum wird man nervös? Man wird an einem Abend Menschen treffen, die man mal kannte, die aber schon zwanzig Jahre lang andere Wege gehen. Man trinkt etwas, isst vielleicht gemeinsam, und wenn einem die Gruppe nicht zusagt und man sich unwohl fühlt, erfindet man eine Ausrede und geht. Oder man geht einfach ohne Ausrede. Denn es ist eher unwahrscheinlich, dass man einzelne oder alle wieder trifft. Dennoch nimmt die Nervosität immer weiter zu.

Schnitt. Der Abend des Treffens.

Ich überlege mir, ob es einen schlechten Eindruck macht, pünktlich zu kommen. Ob ich vielleicht besser fünf Minuten zu spät erscheine, oder besser eine halbe Stunde? Ich entscheide mich, einfach los zu fahren. Wenn ich da bin, bin ich da. Am Ende komme ich pünktlich um 18 Uhr an.

Die ersten Autos stehen schon auf dem Parkplatz vor dem Restaurant. Ich steige aus. In dem Moment fährt ein weiteres Fahrzeug vor, vier Personen sitzen darin. Im Licht der Straßenlaternen kann ich die Gesichter nicht genau erkennen, aber ich bemerke, dass sich auch die vier Menschen umdrehen und zu mir schauen. Geht es ihnen genau so wie mir? Sind sie auch nervös? Immerhin sind sie zu viert, haben also offenbar noch mehr Kontakt zueinander als ich zu meinen Stufenkameraden. Vielleicht gehören sie aber auch gar nicht zu meiner Gruppe, ich weiß es nicht. Dann gehe ich ins Restaurant. Noch etwas vorsichtig betrete ich den Raum, etwas verunsichert, was nun auf mich zukommt.

Es öffnet sich eine andere Welt.

Die Namen meiner Mitschüler habe ich sofort im Kopf. Die ersten kommen auf mich zu. Offenbar geht es ihnen ähnlich, denn sie sprechen mich an und wissen wer ich bin. Man umarmt sich zur Begrüßung, damit hätte ich im Leben nicht gerechnet. Innerhalb von einer Millisekunde ist das Eis gebrochen. Es ist so als hätten wir gestern erst den letzten Schultag verbracht. Ein wahnsinniges Gefühl. Ich spreche mit allen, mit guten Freunden von damals und mit flüchtigen Bekannten, die nie zu meinem engeren Freundeskreis gehörten. Das alles spielt keine Rolle mehr. Man kennt sich. Man erkennt alle Gesichter, man ist sich auf Anhieb sympathisch. Es ist als ob man sich in einem riesengroßen Universum mit den einzigen Freunden trifft, die man je hatte.

Je später der Abend, desto freundlicher die Gespräche. Ich bin sprachlos, dass sich so viele offenbar ernsthaft an mich erinnern. Sie wissen, dass ich eine Behinderung habe, und sprechen mich darauf an. Man sieht mir meine Krankheit nicht an, deswegen müssen sie es zwangsläufig noch von früher wissen. Man spricht über alles, was einem widerfahren ist in den letzten zwanzig Jahren. Es gibt keine Berührungsängste. Nicht im geringsten. Man hört sich gegenseitig zu. Es gibt auch stille Momente, in denen wir am Tisch sitzen und niemand spricht, aber alle schauen sich in die Augen. So als würde man sich im Stillen an früher erinnern und in den Gedanken das reelle Bild jedes einzelnen Gesichts mit den Erinnerungen aus der Vergangenheit in Einklang zu bringen versuchen. Es mag kitschig klingen, aber es war als säße man mit Familienmitgliedern an einem Tisch. Niemand tanzt aus der Reihe. Kein Selbstdarsteller, kein Angeber, alles ganz normale Menschen.

Ich habe nur selten ein solches Gefühl der Wärme und Geborgenheit erlebt. Das muss an dem Personenkreis liegen, und an dem Umstand dass man sich schon als Kind kannte. Mit manchen war ich schon seit dem Kindergarten zusammen. Sowas schweißt offenbar zusammen.

Es war der beste Abend seit vielen Jahren. Ich glaube sogar, dass es einer der besten Abende meines Lebens war. Ob das üblich ist? Keine Ahnung. Für mich fühlte es sich so an. Als ich zum ersten Mal auf die Uhr schaue, ist es halb drei. Mit meinen damals schon besten Freunden verlassen wir als letzte das Lokal. Wir stehen mit zehn Leuten auf dem Parkplatz und nehmen uns in den Arm. Die Verabschiedung dauert nochmal eine halbe Stunde. Wir wollen uns wiedersehen, nicht erst in zwanzig Jahren.

Noch Tage danach war ich überwältigt von der Veranstaltung und schwebte auf Wolken. Wie ich an dem Abend alleine mit dem Auto nach Hause gekommen bin, daran kann ich mich bis heute nicht erinnern.