Kein Lametta

Viele Erinnerungen an meine Kindheit sind immer noch präsent. Auch wenn sie im Laufe der Lebensjahre verblassen, so scheinen sie sich nicht grundlegend zu verändern. Haben einen diese Momente geprägt? Wahrscheinlich nicht. Aber dennoch gibt es einen Grund, warum wir uns erinnern, warum wir uns daran festhalten wollen.

Oft sind Erinnerungen an Groß- oder Urgroßeltern geprägt von einem Gefühl verstaubender Bücher. Irgendwie aus der Zeit gefallen, ein bisschen muffelig, mit schrägen Ansichten. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen. Habe ich in einer verstaubten Bücherei mit schrägen Ansichten und muffeligem Ambiente gelebt? Auf keinen Fall.

Zu den schönsten Zeiten des Jahres gehörte die Vorweihnachtszeit. Die Wohnung wurde geschmückt, es roch nach Tanne und Lebkuchen, die gute Tischdecke wurde auf den Tisch gelegt und es lief Weihnachtsmusik vom Plattenspieler. Meine Großmutter liebte diese Zeit wohl noch mehr als ich, denn sie hat sich jedes Jahr die Mühe gegeben, alles schön herzurichten und immer wieder neu zu gestalten.
Zu den Vorbereitungen gehörte auch das Basteln. Zwar mochte ich es damals nicht besonders, aber komischerweise erinnere ich mich heute sehr gerne an die Nachmittage und Wochenenden zurück, an denen meine Großmutter die Bastelutensilien hervorkramte und wir gemeinsam Geschenke gebastelt haben. Der große Esstisch mit der schönen Weihnachtsdecke wurde abgedeckt, der Naschteller mit Lebkuchen und Spekulatius wurde zur Seite gestellt. Wir haben Fensterdekorationen aus Pappe und Transparentpapier gebastelt. Ich erinnere mich an Tannenbäume, übergroße Schneeflocken und Kerzen. Über viele Jahre hinweg wurde immer das selbe gemacht, aber langweilig wurde es nie. Denn es gab in jedem Jahr ein neues kleines Bastelbuch mit Vorlagen und Ideen, so dass zwischendurch auch mal eine Krippe oder ein Schlitten geschnipselt wurden. Die aufwendigsten und schönsten Basteleien hat immer meine Großmutter gemacht, sie hatte ein wesentlich besseres Händchen als ich. Meine Weihnachtsbäume sahen eckig aus, Reste vom Klebstoff hafteten am Transparentpapier, die Schneeflocke glich eher einem kantigen Schneeklumpen.
Warum unsere Basteleien immer auch als Geschenke dienen mussten, weiß ich erst heute. Ich war niemals besonders stolz auf die Geschenke, die ich gebastelt habe. Und überhaupt: die kunstvollen Dinge, die meine Großmutter gebastelt hat, fanden am Ende niemals einen glücklichen Besitzer, während meine von Unfähigkeit gezeichneten Dinger immer wirklich verschenkt werden mussten. Heute habe ich eine Idee, warum das so war. Früher war es einfach nur komisch für mich.

Zur Weihnachtszeit gehörte auch das Weihnachtsbuch. Ein dickes grünes Buch in hartem Einband, mit Weihnachtsgeschichten und Märchen. Daraus wurde abends vorgelesen, obwohl wir die Geschichten alle schon kannten. Es war ein dickes Buch, also hörten wir nicht jedes Märchen zwangsläufig in jedem Jahr, aber da das Buch so viele Jahrzehnte überdauerte, kannte man trotzdem jede einzelne Geschichte. Es war immer wieder schön, meiner Großmutter oder meinem Großvater beim Vorlesen zuzuhören. Besinnlich, ruhig, schön. Mit dem Geruch von Tanne, Lebkuchen und Kerzen in der Nase.

Heute gibt es das alles nicht mehr. Das Buch liegt irgendwo im Regal bei meiner Mutter, die Weihnachtsdecke wurde wahrscheinlich schon lange entsorgt, den Geruch von Tanne und Lebkuchen habe ich fast vergessen. Eine traurige Zeit.

Was ich von früher als besinnlich und ruhig kenne, die Vorweihnachtszeit, ist schon seit Jahrzehnten die hektischste Zeit des Jahres. Mit zu vielen Terminen zum Jahresende, mit viel zu wenig Besuchen auf dem Bonner Weihnachtsmarkt. Urlaub in der Adventszeit? Bitte, da haben doch die Familien mit Kindern Vorrang vor den Singles. Stattdessen gibt es Mehrarbeit, Überstunden, hektische Wochenenden und plötzlich ist schon der 4. Advent. Seitdem ich erwachsen bin, besteht zwischen meiner Mutter und mir die Verabredung, sich nichts mehr zu schenken. Wenn es diese stillschweigende Vereinbarung nicht gäbe, dann hätte ich noch viel mehr Stress an den knappen freien Samstagen. Denn meine gebastelten Schneesterne und Tannenbäume von früher möchte ganz gewiss niemand geschenkt bekommen.

Warum hat sich alles so verändert? Haben wir uns so verändert? Die ganze Gesellschaft vielleicht? Kennen Sie die kleinen Adventskalender im Postkartenformat? Auf denen eine idyllische Dorfgemeinschaft abgebildet ist mit eine paar Häusern in denen Kerzen im Fenster stehen, Kindern die Schlitten fahren oder einen Schneemann bauen, mit einem Tannenbaum auf dem Dorfplatz vor einer schönen Kirche, und all das eingetaucht in eine wunderhübsche Schneelandschaft? Immer, wenn ich ein solches Motiv betrachte, überkommt mich eine tiefe Traurigkeit. So war mein Leben einmal. Und was ist davon übrig geblieben?

Nichts. Noch nicht einmal mehr Lametta. Und jetzt fragen Sie mich bitte nicht, warum nichts in meiner Wohnung auf Weihnachten hindeutet. Erstens könnte ich es mit der Vergangenheit eh nicht aufnehmen, und zweitens käme ich dann aus dieser Traurigkeit überhaupt nicht mehr heraus.