Meine beste Freundin erzählte mir von einem 15-minütigen Video zweier ProSieben-Moderatoren, die auf sexuelle Belästigung gegen Frauen aufmerksam machen wollten. Darin kamen prominente Frauen zu Wort, die behaupteten, es sei an der Tagesordnung dass sie von fremden Männern ungefragt intime Fotos und beleidigende Kommentare über ihre Social Media Kanäle zugeschickt bekämen. Es sei ‚normal‘, dass Männer sich belästigend und beleidigend äußern und es oftmals in sexueller Belästigung ende, die jedoch nur in zehn von hundert Fällen zur Anzeige gebracht werden würde. Nahezu jede Frau habe diese Erfahrung bereits gemacht, so der Tenor des Videos.
Es fiel mir schwer zu glauben, dass ein so hoher Prozentsatz der Frauen solche Belästigungen ertragen müssen. Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass Männer sich so verhalten, und erst recht nicht dass alle Frauen davon betroffen seien.
Meine beste Freundin sagte mir, dass Mädchen ab dem Kindesalter auch heute noch mit einer gewissen Grundangst aufwachsen würden. Der Angst vor Belästigung durch Männer und einer gewissen Gesetzmäßigkeit davon ausgehen zu müssen, dass man sich derer früher oder später erwehren muss. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis es dazu komme. Auch ihre Eltern hatten ihr im Kindesalter immer zu allergrößter Sorgfalt im Umgang mit Jungen und Männern geraten. „Pass auf, wenn Du abends nach Hause kommst.“ oder „Pass auf wenn Du auf der Party bist.“ Immer wieder wurde zur Vorsicht geraten, zum Abstand halten, zum Distanz wahren.
Meine beste Freundin ist nun fast 50 Jahre alt. Das zeigt einerseits, dass schon vor 40 Jahren ein solches Verhalten von Männern an der Tagesordnung zu sein gewesen scheint, andererseits ist dieser wichtige Punkt aus ihrer Kindheit bis heute allgegenwärtig. Ich zitiere: „Du weißt nicht, wie viele ungezählte Male ich in meinem Leben belästigt wurde. Kommentare von wildfremden waren während meiner Jugend allgegenwärtig, und sie sind es auch heute noch. An der Ampel, im Supermarkt, im Park, im Urlaub.“ Und seitdem es Kamerahandys gibt, so sagt sie, wären ihr ungefragt unzählige intime Fotos zugeschickt worden.
Wir haben niemals darüber geredet. Sie ist meine beste Freundin, sie ist so etwas wie eine Schwester für mich. Wir haben ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zueinander, ihre Eltern mögen mich sehr, und wir sprechen so gut wie über alles. Dieses Thema allerdings wurde noch nie angesprochen.
Bis jetzt.
Auch von einem ganz konkreten Fall von körperlicher Belästigung sprach sie. Sie habe einen guten Freund und seine Lebensgefährtin besucht, um in Köln Karneval zu feiern. Und während sie mit ihrem Freund, seiner Partnerin und einem weiteren Bekannten ihres Freundes, den sie aber nicht kannte, im Gedrängel der Fußgängerzone unterwegs war, ist es passiert. Ihr Freund hatte sich für wenige Minuten von der Gruppe getrennt. Meine beste Freundin war mit seinem Bekannten, den sie vorher noch nie gesehen hatte, alleine. Er drückte sie an die Wand, so dass sie sich mit ihrer zierlichen Gestalt nicht wehren konnte. Dann küsste er sie, und obwohl sie versuchte, sich zu befreien und ihm das auch ganz unmissverständlich gesagt hatte, machte er weiter. Er drückte sie mit seinem ganzen Körpergewicht weiter an die Wand und, Zitat, „steckte mir seine Zunge in den Hals“. Er ließ erst später von ihr ab. Sie habe nicht gewusst, was sie tun sollte. Sie hat sich hektisch von der Gruppe verabschiedet, lief weg, setzte sich abseits auf den Bürgersteig, weinte, und lief dann weiter bis in ihr Hotel.
Bis jetzt habe sie sich nicht getraut, darüber zu reden. Auch ihrem Freund und seiner Bekannten, die von dem ganzen nichts mitbekommen hatten und von ihrer kurzen Verabschiedung überrascht waren, hat sie niemals etwas davon erzählt.
Noch jetzt, dreißig Jahre nach diesem Vorfall, empfinde ich eine unbeschreibliche Wut im Bauch und möchte diesem Arschloch am liebsten das Speisezimmer unbewohnbar machen. Was aus mehrerlei Gründen nicht geht. A) Ich bin auch sehr schmächtig und nicht von großer Statur, und B) ich kenne den Typ nicht, und ihr Freund von früher ist mittlerweile verstorben und zu seiner Lebensgefährtin besteht kein Kontakt mehr. Es gibt also keine Chance, ihn ausfindig zu machen. Sein Glück. Ich würde Menschen anheuern, die ihm das Leben sehr schwer machen. Denn er weiß nicht, wie viel Schaden er in der Seele meiner besten Freundin angerichtet hat.
Zurück zum Thema. Ist es wirklich so? Verhalten sich Männer so? Sind Belästigungen an der Tagesordnung, und erhalten wirklich alle Mädchen und Frauen ungefragt intime Fotos, werden sie bedrängt und beleidigt wenn sie jemanden zurückweisen? Ich muss es wohl glauben, so wie es mir erzählt wird. Es fällt mir aber schwer, denn ich bin nicht ein solcher Mann. Es fällt mir schwer, eine fremde Frau anzusprechen. Ich könnte an der Ampel neben ihr stehen und solange sie mich nicht anspricht, wäre ich stumm. Ich könnte ihr auch keine Intimfotos zuschicken, das wäre mir viel zu peinlich.
Eins aber würde es erklären. Wann immer ich eine fremde Frau anlächle, auch wenn ich dabei niemals etwas sage, fühle ich eine gewisse Zurückhaltung. Natürlich lächeln sie zurück, aber darüber hinaus passiert überhaupt nichts. Wenn wir Worte wechseln, dann immer erst nachdem sie die ersten Worte gesagt hat. Vielleicht ist das der Tatsache geschuldet, dass sie Angst davor hat, ich könnte einer von denen sein, die Frauen nicht mit dem gebührenden Respekt behandeln.
Wenn viele von uns Männern offenbar so sind, dann kann ich mich überhaupt nicht genug für das Fehlverhalten von solchen Arschlöchern entschuldigen. Es sind aber nicht alle Männer so. Die guten gilt es aus der Masse herauszufiltern.