Eine Reha, wer braucht die denn? Ich doch nicht, mir geht’s doch gut. Vielleicht irgendwann, wenn mein Gesundheitszustand zu einem Ungesundheitszustand geworden ist. Aber jetzt doch nicht. Über Jahre hinweg habe ich mich dem gut gemeinten Rat meiner Ärztin widersetzt und eine Reha abgelehnt. Da steter Tropfen jedoch bekanntermaßen den Stein höhlt, hatte sie mich irgendwann weich gekocht. Ich gab klein bei. Na gut, dann mache ich das halt mal. Dann hat die liebe Seele ruh und ich muss mir nicht weiterhin das Genörgel anhören, dass mir die Reha doch gut täte und ich es als vierwöchige Auszeit aus dem Job betrachten sollte, wenn ich schon den medizinischen Gründen gegenüber nicht aufgeschlossen bin.
Somit war es dann im Herbst letzten Jahres so weit. Mit Sack und Pack bin ich gen Norden gefahren, und noch während meiner Fahrt überwogen meine Zweifel ob der Sinnhaftigkeit gegenüber meiner Freude über eine gewonnene Auszeit. Es sollte aber alles ganz anders kommen.

Schon nach dem Einchecken in der Rehaklinik und dem Einzug in mein temporäres Zuhause in ein kleines aber schönes und helles Zimmer fühlte ich mich irgendwie wohl in dem Umfeld. Keine Ahnung woran es lag, ob es die netten Mitarbeiter waren oder die Tatsache, dass ich zum ersten Mal wirklich realisiert habe, dass mich die Arbeit hier für vier Wochen ganz gewiss nicht einholen wird. Nicht einholen kann, schon rein technisch nicht, weil es keinen Mobilfunkempfang gab und das WLAN katastrophal schlecht war. Steckt vielleicht ein Prinzip hinter, dachte ich mir. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die anderen Patienten noch überhaupt nicht kennengelernt, und doch fühlte ich mich wohl. Menschen mit der gleichen Krankheit wie ich sie habe, hatte ich in meinem Leben noch nie getroffen. Insofern war ich schon recht nervös, als ich das erste Mal in den Speisesaal ging und meine Gruppe kennenlernte. Es hatte was von Schullandheim, nur mit Erwachsenen. Jeder hatte seinen festen Sitzplatz, und selbst wenn mir mein Sitznachbar unsympathisch gewesen wäre, hätte ich mich nicht einfach woanders hinsetzen können. Diese Sorge trieb mich um bevor ich den Raum betrat, als ich aber die Türschwelle überschritten hatte, war sie verflogen.
Beim ersten Abendessen also lernte ich die ersten anderen Patienten mit meiner Krankheit kennen. Wir waren ein Grüppchen aus fünf Leuten, zu denen sich in den kommenden zwei Tagen noch ein paar weitere gesellen sollten, die auch ganz hervorragend in die Gruppe passten. Zum ersten Mal in meinem Leben sprach ich mit Menschen, denen es ging wie mir. Es war eine Vertrautheit zu spüren, ohne dass ich die Personen gut gekannt hätte, zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Man sprach sehr schnell sehr offen über Dinge, die einen beschäftigen. Wenn man mit der gleichen chronischen Erkrankung durchs Leben stolpert, hat man naturgemäß viele gemeinsame Themen. Die kamen dann auch sehr schnell auf den Tisch, in einer offenen Art und Weise wie ich es zuvor niemals für möglich gehalten hatte. Es existierte ein Zusammengehörigkeitsgefühl, dass sich ohne Umschweife gleich zu Beginn eingestellt hat und dass sich über die nächsten Tagen und Wochen noch verstärken sollte. Da unsere Gruppe sowohl vom Alter als auch von den sozialen Schichten einen Querschnitt durch die Bevölkerung bildete, fühlte sich keiner wirklich alleine. Zumindest aus meiner Sicht kann ich das behaupten. Rückblickend denke ich auch, dass es den anderen so erging.
Wir wuchsen sehr schnell zusammen. Wir verbrachten ja auch viel Zeit miteinander, auch wenn tagsüber jeder seinem eigenen Zeitplan hinterher gerannt ist, um alle Behandlungen zu absolvieren. Und derer gab es viele. Es ging jeden Tag spätestens um 8 Uhr los und nicht selten endete die letzte Behandlung abends zwischen 16 und 17 Uhr. Es blieb aber trotzdem viel Zeit für gemeinsame Unternehmungen, ob am Wochenende oder an behandlungsfreien Feiertagen. Fahrradtouren am Strand, gemeinsame Restaurantbesuche, Spaziergänge und Ausflüge zu nahegelegenen Leuchttürmen boten eine gute Gelegenheit, um sich besser kennenzulernen. Das taten wir auch. An den Wochenenden auch abends, alkoholisiert und gut gelaunt.
Es ist etwas besonderes, Zeit mit Menschen zu verbringen, deren Leben viele Überschneidungen mit dem eigenen haben. Und es hat etwas erschreckendes, wenn man feststellt wie andere mit den gleichen Lebensfragen anders umgegangen sind und dadurch grundverschiedene Lebensmodelle entstanden sind. Erschreckend für einen selbst. Weil man merkt, was anders gelaufen wäre, wenn man die Fragen, die man sich in der Vergangenheit gestellt hat, anders beantwortet hätte. Wenn man an den Weggabelungen eine andere Abbiegung gewählt hätte. Denn wie sich herausgestellt hat, haben wir uns alle die gleichen Fragen gestellt, nur eben unterschiedlich für uns selbst beantwortet.

Man fühlt sich diesen Menschen sehr nahe. Auch heute noch, etwa ein halbes Jahr nach der Reha. Natürlich habe ich nicht zu allen mehr Kontakt. Aber zu den engsten Bekannten besteht noch eine Bindung, die sich hoffentlich nie auflösen wird. Wir kennen uns effektiv erst seit sieben Monaten, dennoch bezeichne ich sie als Freunde. Das will bei mir etwas heißen. Üblicherweise dauert dieser Prozess bei mir deutlich länger. Und auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist dass wir nochmal gemeinsam einen vierwöchigen Urlaub – pardon, eine Reha – im wunderschönen Norden verbringen werden, so haben wir es doch angesprochen. Auch ich. Denn die Reha ist nicht nur etwas für den Fall dass es einem so schlecht geht dass man sie braucht um wieder auf die Beine zu kommen. Sie ist mindestens genau so wichtig um auf den Beinen zu bleiben. Aufgrund meiner guten gesundheitlichen Verfassung habe ich weniger einen körperlichen Vorteil daraus gezogen als einen seelischen. Das Gefühl möchte ich nicht mehr hergeben. Die Menschen, die ich dort kennenlernte, und zwar ausnahmslos alle elf, möchte ich am liebsten für immer ganz nah in meinem Freundeskreis haben. Vielleicht sehen sie das ja auch so, würde mich schon interessieren.
Der Abschied fiel allen schwer. Wie im Film erlebte ich die letzten Stunden und es war sehr schmerzhaft, die Gruppe auseinanderbrechen zu sehen. Nach und nach stieg jeder ins Taxi oder wurde zum Bahnhof gefahren. Zum Schluss waren wir noch zu viert in der Lobby der Klinik, saßen auf unseren Koffern und konnten die Situation nicht wirklich begreifen. Jetzt war es zu Ende. Obwohl man eigentlich genau das Gegenteil gewollt hätte, musste jeder in eine andere Himmelsrichtung aufbrechen. Wir haben bestimmt eine Stunde dort gesessen und uns angeschwiegen, niemand wollte gehen, niemand hat auf die Uhr geschaut, niemand hat mitbekommen, wie die Zeit verstrichen ist. Bis einer sagte „Es bringt ja nichts.“ Dann standen wir auf, umarmten uns, setzten uns in unsere Autos und fuhren auseinander. Ich weiß dass bei allen Tränen flossen, als jeder für sich im Auto saß und in das alte Leben zurückgefahren ist. Was ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht wusste war, dass das nicht das Ende gewesen sein sollte. So enge freundschaftliche Beziehungen wie in der Zeit danach habe ich vorher nur selten erlebt. Für jede einzelne, die bis heute besteht, bin ich unendlich dankbar.
Die ersten Tage zuhause und im Beruf waren schlimm. Anders kann man es nicht sagen. Ich war mit den Gedanken und Gefühlen ganz weit weg, noch immer am Meer, noch immer in der Gemeinschaft mit den anderen Patienten. Arbeitskollegen um mich herum haben das wahrgenommen. Was denn mit mir los sei, wo ich denn mit den Gedanken hängen würde. Ich sah wie sich ihre Lippen bewegten wenn sie mit mir sprachen, aber ich vernahm nur dumpfes Gemurmel. Sie sagten mir, ich sei so komisch. Es wäre besser gewesen wenn ich niemals zur Reha gefahren wäre. In diesen Momenten streckte ich ihnen gedanklich den Mittelfinger entgegen. Noch heute – mehr als sieben Monate danach – bin ich mit meinen Gedanken ab und zu noch ganz weit weg, insbesondere dann wenn wir uns am Wochenende treffen und Zeit miteinander verbringen, telefonieren oder Nachrichten austauschen. Ich habe deutlich mehr Abstand zu meiner Arbeit als vorher. Vieles ist mir egal, was mich vorher zur Weißglut getrieben hätte. Früher hätte ich nicht gewusst wie ich damit umgehen soll, wenn ich meinen Job verliere, weil die Arbeit der wichtigste Teil meines Lebens war. Heute ertappe ich mich manchmal bei dem Gedanken, dass ich froh wäre wenn ich meinen Job verliere. Das wäre die Initialzündung um meinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Woanders neu anzufangen. Angst auf etwas verzichten zu müssen oder den Neuanfang nicht schaffen zu können, habe ich nicht. Alles ist gerade gerückt worden.
Meine Ärztin war in der Tat begeistert, wie positiv ich nach der Rückkehr von der Reha berichtete. „Sehen Sie, es hat Ihnen gut getan.“ Und mir blieb nur zu erwidern: Ja, das hat es. Mehr als man mit Worten beschreiben kann.
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