Jahreswechselmelancholie

Der kleinen Leserschar wünsche ich ein fröhliches und vor allen Dingen gesundes Neues Jahr!

Moment. Ist es wirklich schon so spät? Es war doch gerade erst Ostern, und zwei Tage zuvor Weihnachten. Wie kann denn dann schon wieder ein Jahr vorüber sein? Was früher wie eine altkluge Weisheit meiner Großeltern klang – und auch daran kann ich mich noch sehr gut erinnern als ob es vorgestern war, obwohl sie schon seit zwanzig Jahren tot sind – fühlt sich jetzt für mich genau so an: je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit. Vielleicht weil immer mehr passiert innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Wenn mir langweilig ist, geht die Zeit nicht vorbei, und an Tagen mit viel Stress fliegen die Stunden nur so dahin.

Die Welt wird immer rasanter. Entwicklungen egal welcher Couleur, also politische und gesellschaftliche, werden immer extremer. Platt formuliert: mächtige Menschen werden immer rigoroser in ihren Entscheidungen, Werte verfallen in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Früher behandelten sich Menschen gegenseitig noch mit Respekt, heute muss ich mich trotz fortgeschrittenen Alters von Jugendlichen in der Straßenbahn zurecht weisen lassen: „Ey Wichser, was glotzt Du mich so an? Ich hau Dir auf die Fresse Du Hurensohn.“ Fürs Protokoll: ich stand in der vollen Straßenbahn und nahm meinen Koffer zur Seite, damit einsteigende Fahrgäste noch Platz finden konnten. Dabei gebe ich zu, den Heranwachsenden neben mir angeschaut zu haben, um ihm nicht meinen Koffer auf die Füße zu stellen. Mir kommt in den Sinn, dass ich wohl besser meinen Koffer mit Schwung in seine Testikel hätte befördern sollen. Wobei fraglich ist, ob ich sie getroffen hätte, so klein wie sie sind. Sorry man, war reine Absicht. Tut’s weh? Gut. Und jetzt verpiss Dich und warte auf die nächste Bahn wenn Du Du heute noch gesund bei Deiner Mama auf dem Schoß sitzen willst, Du Arschloch. Zurück zur Sache. Dieser Verlust von Werten und Anstand ist auf allen gesellschaftlichen Ebenen festzustellen. Vom kleinen Bürger über den Mittelständler bis hin zu Politikern und Entscheidungsträgern großer Nationen. Darin liegt begründet, warum es immer rasanter abwärts geht. Wenn der Typ in der Bahn irgendwann mal Chef von irgendwas ist, wobei fraglich ist ob er das jemals wird, aber mal angenommen es sei so, wird sich selbst dann seine Grundhaltung zu Menschen nur ganz geringfügig geändert haben, wenn überhaupt. Also ist sein Verhalten im späteren Leben in gewisser Form ähnlich seinem jetzigen. Das merkt man ja an sich selbst auch. Die wichtigen Werte und Einstellungen ändern sich nur geringfügig. Leider gibt es immer mehr von solchen einfachen und dummen Menschen. Statistisch gesehen werden sie also irgendwann wichtige Positionen bekleiden und auch dann weiterhin ein solches Verhalten an den Tag legen. Arme Welt.

Nun ist es also 2020. Und ich beginne das Jahr mit solch düsteren Gedanken. Für meinen Teil ist das vollkommen okay. Denn erstens bin ich schon mein Leben lang eher ein Pessimist als ein Optimist, und zweitens sind Jahreswechsel oder Geburtstage eh nicht so mein Ding. Ich finde nicht, dass es ein Grund zum Feiern ist, nur weil schon wieder ein Jahr vorbei ist. In diesem Sinne: war irgendwas? Es hat so komisch gedonnert in der letzten Nacht?