Der Wolf

Nur wenigen Tieren haftet das Bild der wilden und ungezähmten Natur so unbeirrbar an wie dem Wolf. Er war lange aus unseren Wäldern und Feldern verschwunden, und währenddessen haben wir uns mit unserer Zivilisation immer weiter ausgebreitet. Haben ihm den wenigen Lebensraum, der ihm übrig blieb, noch während seiner Abwesenheit immer mehr genommen.

Nun ist er wieder da. Einzelne Tiere oder kleine Rudel erobern sich ihren Lebensraum zurück. Natürlich kommen sie dabei dem Menschen in die Quere. Nicht jedoch deshalb, weil sich der Wolf denkt, es sei an der Zeit in unseren Lebensraum einzudringen und uns zu bedrohen, sondern weil wir ihm seinen Lebensraum streitig gemacht haben. Dieses Land ist dicht besiedelt, und selbst die Regionen, die zu den am wenigsten dicht besiedelten gehören, sind flächenmäßig noch nicht groß genug, um Lebensräume zu bieten, die vollkommen getrennt nebeneinander existieren können, und wo eine Begegnung von Mensch und Wolf zu einhundert Prozent ausgeschlossen ist.

Somit werden Begegnungen zwischen Wolf und Mensch häufiger. Und zwischen Wolf und Schaf, wie in der Presse immer wieder zu lesen ist. Aber auch das liegt nicht daran, dass der Wolf erst seit kurzem Appetit auf Schaf bekommen hat: den hatte er schon immer. Allein die Tatsache, dass er so lange weg war hat uns dazu verleitet, wir könnten unsere Nutztiere ungeschützt auf Weiden stehen lassen. Jetzt dem Wolf daraus einen Strick zu drehen, im wahrsten Sinne des Wortes, ist eine Absurdität sondergleichen.

Der Wolf gehört hier hin. Unser Land gehört zu seinen angestammten Lebensräumen, er hat sich nur in den letzten Jahren rar gemacht. Ihn jetzt abschießen zu wollen, nur weil das ein oder andere Schaf von ihm getötet wurde, ist er falsche Ansatz. Wie viele Schafe wurden von uns getötet? Knallen wir deshalb die Schäfer ab, die ihr Tier zum Schlachthof fahren? Das kann man doch nicht vergleichen, wird jetzt der Schäfer sagen. Ganz unrecht hat er nicht, der Vergleich hinkt arg. Aber mal im Ernst: wo ist das Problem?

In Ländern, in denen mehr Wildtiere als bei uns heimisch sind, ich denke da an die unendlichen Weiten Kanadas oder Nordamerikas, wo neben Wölfen auch Bären unterwegs sind – und Bären sind ja wohl unbestritten noch ein ganz anderes Kaliber – da werden auch Schafe gezüchtet. Da leben die Menschen auch trotz der Bedrohung für ihre Kinder und ihre Tiere und ihre Gänseblümchen unbekümmert ihr Leben. Natürlich wird auch da bestimmt mal ein Schaf vom Wolf oder vom Bär gerissen, aber das ist halt so. Da kümmert es keinen. Da schützen die Menschen ihre Herden mit Zäunen oder bewaffneter Artillerie. Das ist ein wesentlich sinnvollerer Ansatz als der, den wir hier praktizieren. Laut zu brüllen, weil man möchte dass prophylaktisch ein Tier getötet wird, über das wir froh sein können und das nur in seinen Lebensraum zurückkehrt, ist absurd.

Wir können froh sein, dass die Natur in unserem Land Einzug hält. Auch wenn es nur in kleinen Stücken ist, und auch wenn wir Berührungen nicht vollkommen vermeiden können. Aber offenbar ist die wilde Natur noch nicht so weit zurückgedrängt, dass der Wolf Fersengeld gibt um hier weg zu kommen. Also seien wir doch dankbar dafür, oder nicht? Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der wir froh sind über jedes Tier, was nicht mehr da ist.