Das letzte Grün

Um es kurz zu machen: es ist weg.

Vor nicht allzu langer Zeit gab es hinter meinem Wohnhaus, mitten in der Stadt, ein kleines Waldstück. Vögel zwitscherten, Füchse und Hasen lebten dort, ich brauchte keine Vorhänge vor den bodentiefen Fenstern und konnte sorgenfrei splitterfasernackt auf dem Balkon im zweiten Stock stehen.

Dann wurde das Waldstück verkauft. Und gerodet. In Gänze. Es entstanden Häuser, eine Straße, noch mehr Häuser. Die Zeit der Freikörperkultur ist nun schon lange vorbei, und nur durch Vorhänge vor den Fenstern fühle ich mich unbeobachtet. Ohne diese Vorhänge könnte man meine gesamte Wohnung einsehen, aus den Häusern und von den Balkonen, die jetzt einen Panoramablick auf mein Wohnhaus haben.

Das Grün ist der grauen Farbe gewichen. Häuser und Straße haben das letzte Grün verdrängt. Keine Vögel zwitschern mehr. Keine. Wenn ich das Fenster geöffnet lasse, höre ich nicht einen einzigen Vogel mehr. Ich sehe auch kein Grün mehr. Selbst wenn ich auf dem Balkon stehe.

Ein einzelner Baum hat sich lange auf einer Grundstücksgrenze gehalten. Wahrscheinlich nur deshalb, weil er haargenau auf der Grenze stand, und sich niemand so wirklich sicher war, zu welchem Grundstück er gehört. Das hat ihn aber nun auch nicht mehr gerettet. Denn genau so wie sich vorher niemand bewusst war, zu welchem Grundstück er gehört, hat sich auch niemand daran gestört, als er ohne Grund von Anwohnern in einer Nacht- und Nebelaktion gefällt wurde. Nun ist also auch der letzte Baum verschwunden. Das scheint mir sinnbildlich zu sein für das Leben in der Stadt. Natur? Weg damit. Beton und Steine sind trumpf.

Sowas macht mich sehr traurig. Offenbar bin ich der einzige, der sich daran stört. Ein Gespräch unter Nachbarn im Treppenhaus offenbarte, dass viele froh sind, dass der letzte Baum weg ist. Weil er gestört hat, so die überwiegende Meinung der Nachbarn. Warum er gestört hat, obwohl er seit Jahrzehnten da stand, in weit mehr als ausreichendem Abstand zu den umliegenden Gebäuden, ohne jemandem etwas zu tun? Darauf hört man nur Gemurmel. Ich hingegen denke, dass nicht der Baum gestört hat, sondern dass die Sichtweise der Nachbarn gestört ist. Und zwar massiv gestört.